Fallbeispiel Viererfeld / Mittelfeld Stadt Bern
Ziel der Fallstudie
Ziel des Fallbeispiels ist es aufzuzeigen, wie der Oberflächenabfluss für ein Entwicklungsgebiet mit einem vereinfachten methodischen Ansatz berücksichtigt werden kann und Massnahmen zur weiteren Bearbeitung ausgeschieden werden können. Die hydraulische Überprüfung des Entwässerungssystems wird nicht behandelt. Für die Analyse des Oberflächenabflusses im geplanten städtischen Quartier Viererfeld / Mittelfeld wurde anstelle einer detaillierten 2D-Simulation des Oberflächenabflusses der Ansatz der statischen Volumenbetrachtung (vgl. Begleitdokumentation, Kapitel 6.3 Methodenauswahl) zur Bestimmung der Wasserstände in Geländetiefpunkten gewählt.
Einführung in das Studiengebiet
Die Stadt Bern plant auf dem Vierer- und dem Mittelfeld auf der Basis eines städtebaulichen Wettbewerbs ein attraktives, dicht überbautes Wohnquartier zu realisieren. Das neue Stadtquartier nördlich des Hauptbahnhofs grenzt an den Bremgartenwald und befindet sich in direkter Nähe zur Aare. Aufgrund grosser Höhenunterschiede ist kein Rückstau aus der Aare in die Kanalisation möglich. Es soll Platz für rund 1140 Wohnungen bieten und dabei urban, nachhaltig, hindernisfrei, grün und wegweisend sein. Angrenzend an die Bebauung sind ein Park und Familiengärten geplant.

Entwässerung
Es ist vorgesehen, das Viererfeld im Trennsystem und das Mittelfeld im Mischsystem zu entwässern. Das Regenabwasser des Viererfelds soll über eine bestehende Leitung im Aarehang direkt in die Aare eingeleitet werden. Das Schmutz- und Mischabwasser wird an die bestehende Mischabwasserkanalisation angeschlossen. Die Kanalisation wurde in der weiteren Bearbeitung als Senke betrachtet, eine Modellierung der Kanalisation im Zusammenhang mit dem Oberflächenabfluss wurde jedoch nicht vorgenommen.
Die öffentlichen und privaten Flächen (Cluster) gehen aus Abb. 2 hervor. Für das Regenabwasser der privaten Cluster wurden Spitzenabflussbeiwerte definiert, um die Einleitung in die Regenabwasserkanalisation zu begrenzen. Der Gesamtabfluss je Cluster wird auf 25% des Spitzenabflusses der Dachflächen zuzüglich 80% des Spitzenabflusses der privaten Verkehrsflächen begrenzt.

Grundlagenanalyse
Aktuell werden die Flächen landwirtschaftlich genutzt. Für die Grundlagenanalyse sind insbesondere Informationen zum Oberflächenabfluss basierend auf dem Ist-Zustand sowie die zukünftigen Gebäudestandorte und Nutzungen von Interesse.
Oberflächenabfluss
Mit Hilfe der Gefährdungskarte Oberflächenabfluss (BAFU) können potenziell durch Oberflächenabfluss gefährdete Gebiete identifiziert werden. Sie weist die errechnete Gefährdung bei einem 100- bis 300-jährlichen Regenereignis anhand von Wasserständen aus. In der Berechnung wurden nicht alle abflussrelevanten Strukturen berücksichtigt, weshalb die Karte als Hinweiskarte verstanden werden kann.
Abb. 3 zeigt den Ausschnitt aus der Gefährdungskarte Oberflächenabfluss für das Vierer- und Mittelfeld. Ausserdem werden die Hanglagen dargestellt.

Für das Areal des Viererfelds wird deutlich, dass trotz der flachen Geländetopografie (Geländeneigung etwa 4%) und der gegenwärtigen landwirtschaftlichen Nutzung Oberflächenabfluss zu erwarten ist. Es ist auch erkennbar, dass Wasser vom angrenzenden Wald dem Areal zufliesst. Für das Viererfeld lassen sich zwei Fliessrichtungen anhand der Gefährdungskarte erkennen.
Das Mittelfeld ist im aktuellen Zustand nicht durch Oberflächenabfluss gefährdet.
Geplante Nutzungen
Die privaten Cluster sehen eine Wohnnutzung sowie Gartenflächen in den Innenhöfen vor. Im Norden des Viererfeldes ist eine Schulanlage mit Sportplatz vorgesehen. Im öffentlichen Raum befinden sich neben Verkehrswegen und Wohngassen auch Plätze und Park- beziehungsweise Gartenflächen. Neben den Flächennutzungen wurden im Masterplan auch die Nutzung der Gebäude definiert. Neben der Schule werden vornehmlich Wohngebäude mit einem teilweise belebten Erdgeschoss (z. B. Nutzung für Wohnatelier o. ä.) errichtet. Die Flächen- und Gebäudenutzungen sind in Abb. 4 dargestellt. Unter den an die äusseren Strassen angrenzenden Gebäuden sind Einstellhallen geplant. Die Zufahrt erfolgt von aussen.

Schutzziele
Schutzziele
Kriterien für Oberflächenabfluss und kanalinduzierte Überflutungen
Je nach Nutzung der Flächen und Gebäude/Objekte können unterschiedlich hohe Anforderungen an den Schutz vor Oberflächenabfluss und kanalinduzierte Überflutungen gestellt werden. Für das Viererfeld und Mittelfeld wurden die in Tabelle 1 zusammengefassten Schutzgutklassen berücksichtigt.
Tabelle 1: Schutzgutklassen des Viererfeld und Mittelfeld.
Schutzgutklasse | Schadens- potenzial | Häufigkeit (einmal je z Jahre) | |||
Schwache Intensität | Mittlere Intensität | Starke Intensität | |||
Klasse 1 | Freiflächen, Verkehrswege | Gering | zulässig | > 30 | > 100 |
Klasse 2a | Wohngebiete, Kleingewerbe Stadtzentren, Industrie und Gewerbe-gebiete, | Hoch | > 100 | > 300 | Nicht zulässig |
Klasse 3 | Sonderobjekte / kritische Infrastruktur / sensible Nutzungen | Sehr hoch | Fallweise festlegen |
Schutzzielfestlegung
Auf Grundlage der vorgesehenen Flächen und Gebäudenutzungen sowie der Schutzgutklassen wurden die Schutzziele definiert. Dabei wurde wie folgt vorgegangen:

Das Ergebnis der Schutzzieldefinition je Ereignisintensität geht aus Abb. 6 hervor. Den Verkehrsflächen wurden keine Schutzziele zugewiesen, um sie für die Ableitung und Zwischenspeicherung von Oberflächenabfluss zur Verfügung stellen zu können.

Abfluss aus kleinen Einzugsgebieten
Für die Abschätzung des Gefährdungspotenzials durch Oberflächenabfluss wurde die Methode zur Abschätzung des Abflusses aus kleinen Einzugsgebieten verwendet. Das Wasserbilanzmodell erlaubt es, die potenziellen Zuflüsse in das Siedlungsgebiet, die in angrenzenden kleinen natürlichen Einzugsgebieten entstehen, abzuschätzen und die zu erwartenden Wasservolumina und mittleren Wasserstände in Abhängigkeit der Kanalnetzkapazität, der Retentionsmassnahmen und der Oberflächenbeschaffenheit im Siedlungsgebiet zu ermitteln.
Abb. 7 zeigt die für das Viererfeld und das Mittelfeld definierten Teileinzugsgebiete (TEZG), die anhand des digitalen Geländemodells ermittelt und im Feld verifiziert wurden. Die TEZG 1 bis 6 umfassen die natürlichen, bewaldeten Gebiete. Die Zonen A, B und C entsprechen dem Perimeter des Entwicklungsgebiets Vierer- und Mittelfeld inklusive des geplanten Parks und der geplanten Familiengärten.
Für die neue Siedlung wurden nur die TEZG 3 und 5 als relevant für den Oberflächenabfluss in die Zonen A und B (Viererfeld) betrachtet. Die TEZG 1, 2, 4 und 6 hingegen sind für die neue Siedlung nicht relevant, da der Abfluss in andere Richtungen abfliesst. Die Zone C (Mittelfeld) befindet sich auf einer Anhöhe und es ist kein Zufluss aus einem angrenzenden natürlichen TEZG zu erwarten.
Die Berechnung stützt sich auf die in Tabelle 2 definierten Parameter.


Regendaten und Szenarien
Analog zu anderen Naturgefahren wurden Regenereignisse mit einer Häufigkeit von 30, 100 und 300 Jahren betrachtet. Dafür wurde die Extremwertstatistik der Station Zollikofen von MeteoSchweiz verwendet. Es wurden kurze Regen (10 Min.) und Dauerregen (24h) untersucht. Auf Grundlage der bilanzierten Wasservolumina und unter der Vorgabe eines Gesamtgebietsabflusses von 0 m3/a wurden Massnahmenkombinationen wie die oberirdische und unterirdische Speicherung auf Grünflächen und urbanen Plätzen zum Umgang mit Starkregen im Quartier konzipiert.
Häufigkeit | Dauerstufe | Intensität |
Jahre | [l/(s*ha)] | |
z30 | 10 Min. | 300 |
60 Min. | 95 | |
24 h | 10 | |
z100 | 10 Min. | 383 |
60 Min. | 120 | |
24 h | 12 | |
z300 | 10 Min. | 500 |
60 Min. | 148 | |
24 h | 15 |
Ausserdem wurden folgende Szenarien betrachtet:
Szenario 1: Bei keinem der betrachteten Niederschlagsereignisse darf Wasser an der Oberfläche abfliessen und die Teilgebiete A und B verlassen (Abfluss gleich Null).
Szenario 2: An den tiefsten Punkten der Teilgebiete A und B darf für die betrachteten Niederschlagsereignisse so viel Wasser an der Oberfläche abfliessen und die Teilgebiete A und B verlassen, wie aus den natürlichen Einzugsgebieten 3 und 5 zufliesst (Abfluss = Zufluss).
Ergebnisse
Die Ergebnisse der Berechnungen mithilfe des Ansatzes für kleine Einzugsgebiete (vgl. Abschnitt 6.2.2 der Empfehlung ) sind in Abb. 8 dargestellt. Daraus gehen die Zuflüsse aus den natürlichen Einzugsgebieten, der gleich Null gesetzte Abfluss aus den zukünftig überbauten Gebieten (Zielwert) sowie das in den zukünftigen Siedlungsgebieten anfallende Wasservolumen sowie die mittleren Wassertiefen hervor.
Das Wasservolumen je Teilgebiet wurde als Bilanz aus Quellen (Zuflüsse, Regen), Speichern (Retentionsanlagen der privaten Cluster) und Senken (Ableitung über die Kanalisation) bestimmt. Der mittlere Wasserstand bezieht sich auf die freien Verkehrs- und Grünflächen innerhalb der überbauten Gebiete. Die Gebäudeflächen wurden herausgerechnet. Ebenso wurde das Gefälle unberücksichtigt gelassen.

Massnahmenkonzeption
Auf Grundlage der bilanzierten Wasserstände und Wasservolumina wurden für das Gebiet Massnahmen defineirt, die es in der weiteren Projektierung zu konkretisieren und ggf. detailanalytisch zu überprüfen gilt.
Die Massnahmenkonzeption basiert auf einem 100-jährlichen Regenereignis der Dauer 60 Minuten und der Annahme, dass für dieses Ereignis kein Wasser das Quartier an der Oberfläche abfliessend verlassen darf. Die Grundlagen basieren auf der einen Seite auf den geringen berechenten Wassertiefen (< 10 cm) und der Schutzzieldefinitionen, die bis zu einem 100-jährlichen Ereignis einen Wasserstand von 50 cm zulassen.
Zudem wurden die nachfolgenden Prinzipien angewendet, um die Massnahmen aufeinander abzustimmen und eine integrierte Planung zu forcieren:
- Ein gefüllter Speicher überläuft kaskadierend in den anderen. Durch die in Reihe geschalteten Massnahmen wird eine zusätzliche Abflussverzögerung erreicht.
- Es wird, wo möglich, eine offene Ableitung an der Oberfläche von einem zum anderen Speichersystem und eine Speicherung an der Oberfläche angestrebt. Auf diese Weise können unterirdische Anlagen und Dimensionierungsengpässe reduziert werden.
- Im Starkregenfall wird ein Teil des Regenabwassers, dass im Park TEZG A anfällt, über die Kanalisation abgeleitet und so die Restkapazität des Kanalnetzes ausgeschöpft. Im Park des TEZG B muss das gesamte, im Park anfallende Regenabwasser zurückgehalten werden. Da hier die Kapazität der Regenabwasserkanalisation geringer ist, sind bei einem z100-Regenereignis Massnahmen zur Rückhaltung an der Oberfläche im Siedlungsgebiet notwendig.
- In den Siedlungsgebieten wird das Wasser an der Oberfläche zu zentralen Rückhalteräumen geführt. Zur Rückhaltung werden die bereits im Masterplan angedachten Flächen sowie die öffentlichen Platzflächen berücksichtigt.

Nächste Schritte
Im weiteren Planungsverlauf ist zu prüfen, wie das Regenabwasser der öffentlichen Flächen oberflächlich bewirtschaftet werden kann.
Die konkrete Gestaltung und Auslegung der einzelnen Massnahmen auf den privaten Clustern und zum Schutz vor Überflutungen müssen in der weiteren Planung projektiert werden. Anlagen zur Speicherung und Retention werden gemäss VSA-Richtlinie Abwasserbewirtschaftung bei Regenwetter, Modul A [VSA (2019)] dimesnioniert. Massgeblich ist das Regenereignis einer definierten Wiederkehrdauer (bspw. 10 Jahre), welches das grösste Wasservolumen produziert, das gespeichert oder zurückgehalten werden muss.
Ferner ist die zeitlich abgestimmte Befüllung und Entleerung der einzelnen Bausteine in der nachfolgenden Planung genauer zu untersuchen, um die Funktionsfähigkeit des Gesamtsystems gewährleisten zu können. Eine gekoppelte Modellierung (Kanalisation + 2D-Oberflächenabfluss + dezentrale Massnahmen wie Retentions-/Speicheranlagen) kann die Funktion und Wirksamkeit der Massnahmen aufzeigen. Dafür müssen jedoch definierte Projekthöhen im Detail bekannt sein. Die zu verwendenden Regendaten für diese Detailanalyse sind in Abschnitt 3.6 der Empfehlung beschrieben.